Wir freuen uns sehr, im heutigen Role Model Interview, die preisgekrönte Regisseurin Chiara Fleischhacker vorzustellen.
Liebe Frau Fleischhacker, vielen Dank für Ihre Zeit! Wir freuen uns sehr, Sie unseren Leserinnen sowie Lesern bekannt zu machen und hierbei einen spannenden Einblick in Ihren Debütfilm VENA geben zu können.
Frau Fleischhacker, Sie sind in einer künstlerisch geprägten Familie aufgewachsen und entwickelten bereits früh ein tiefes Interesse für das Erzählen von Geschichten und für die Filmkunst. Mögen Sie den Lesenden hierzu einen kleinen Schnappschuss aus Ihrer Lebensbiografie geben?
Aus einer künstlerisch geprägten Familie komme ich eigentlich gar nicht, im Gegenteil. Meine Eltern haben beide ihre DDR-Traumata erlebt und konnten ihre beruflichen Träume nicht umsetzen. Ich bin also in eine Zeit der Möglichkeiten hineingewachsen, in der ich nach verschiedenen Umwegen – über eine Eliteschule des Sports und ein Psychologiestudium in Freiburg – schließlich zum Regiestudium in Ludwigsburg und Paris gefunden habe.
VENA ist Ihr Debütabschlussfilm an der Filmakademie Baden-Württemberg. Wie ist die Idee zum Film entstanden?
Während des Schnitts eines Dokumentarfilms zum Thema Strafe war ich mit meiner eigenen Tochter schwanger und fragte mich, ob Schwangere überhaupt in Haft müssen und, wenn ja, unter welchen Bedingungen. Das war die Leitfrage, die mich zu einer komplexen Recherche geführt hat.
Wir freuen uns sehr, dass wir bereits einen Blick in den Film werfen konnten, und das Erste, was aufgefallen ist, war die Tiefgründigkeit der Charaktere. Vor allem die Protagonistinnen Jenny (Emma Nova) und Marla (Friederike Becht) haben uns hierbei sehr beeindruckt. Wie haben Sie dafür gesorgt, dass die Charaktere im Film so authentisch und vielschichtig dargestellt werden konnten?
Das werde ich oft gefragt. Ich kann es gar nicht richtig von außen beschreiben, weil es meine Art ist, Menschen und die Welt zu sehen. Ich denke, die umfangreiche Recherche fließt dabei ein. Ich habe viele Details im Alltag aufgeschnappt, die den Charakteren Tiefe verleihen, wie all die kleinen Gewohnheiten von Jenny: Glitzer, Fingernägel und ihre Orchideen.
Sie haben Regie und Dokumentarfilmregie studiert, was im Film sichtbar wird, da dieser an einigen Stellen eine realistische, ungeschönte, dokumentarische Authentizität aufweist. So gibt es die fast schon märchenhaft anmutenden Sequenzen, wenn Jenny Glitzerstaub auf ihre Orchideen klebt oder den im Sonnenlicht drehenden Glaskristall betrachtet. Welche Indikatoren inspirieren Sie besonders bei der Komposition solcher Szenen?
Irgendwie finde ich diesen Zauber einfach schön, und er bietet die Möglichkeit, das Leben in seiner Spanne zu betrachten. Es gibt keine Orte, die nur trist oder fröhlich sind. Leben bedeutet Kontraste, und in der Realität finden wir diese immer. Ich denke, wir sind durch mangelhafte Narrative im Film auf eindimensionale Charaktere geschult, was auch wiederum unsere Art verändert, die Welt zu sehen.
Unser Onlinemagazin beschäftigt sich im Kern mit dem Thema „Female Empowerment“. Würden Sie sagen, dass VENA im Hinblick auf „weibliche Selbstermächtigung“ eine besondere Symbolkraft hat und, wenn ja, welche Szene haben Sie hierbei als besonders bedeutend empfunden?
Wir brechen – das ist mir erst im Nachhinein bewusst geworden – mit vielen Narrativen, die in patriarchal geprägten Filmen über Jahre etabliert wurden. Die Lust von Jenny steht im Fokus. Wenn Jenny sagt, sie hat keine Lust auf Sex, ist das nicht verhandelbar. Sie löst sich aus einer ungesunden Beziehung, sie steht für ihre Meinung ein, im Leben und während der Geburt. Sie bringt ihre Tochter im Rahmen des Möglichen selbstbestimmt auf die Welt.
In der Filmindustrie selbst sind Frauen im Bereich der Regie oder der Entwicklung von Drehbüchern leider immer noch stark unterrepräsentiert. Wo sehen Sie hierbei einen besonderen Handlungsbedarf?
In vielen Bereichen! Da das Regiestudium oft ein Zweitstudium ist, fallen die Zeiten für die Betreuung eines Kindes und die Arbeit am Abschlussfilm zusammen. Es ist eigentlich unmöglich, ein Kind zu bekommen und gleichzeitig einen Langspielfilm zu drehen. Mir war das nur durch ein Stipendium möglich. Hier sehe ich dringend Handlungsbedarf, Stipendien für Diplome mit Care-Verantwortung ins Leben zu rufen. Außerdem braucht es mehr Gender-Parität in den Jurys, die über Projekte und Stoffe entscheiden. Frauen müssen aber auch bei sich selbst ansetzen, ihren Wert kennen und dafür einstehen, unter den Bedingungen zu arbeiten, die sie brauchen. Wer nicht selbstbewusst verhandelt, wird sich kleiner machen, als nötig – und das kann das Ende vom Anfang sein.
Unsere Perspektive auf den Film wurde in diesem Zuge nochmals erweitert, da Sie zeitgleich zur Idee zu VENA ebenfalls Mutter geworden sind. Als Sie für den Film mit dem renommierten Nachwuchspreis „First Steps“ ausgezeichnet wurden, sprachen Sie sich in Ihrer Dankesrede sehr deutlich für bessere Arbeitsbedingungen in der Filmbranche aus. Inwieweit besteht für Sie auch im Hinblick auf Familien und Alleinerziehende eine besondere Notwendigkeit, die bestehenden Rahmenbedingungen zu verändern?
Eine große. Wir verlieren authentische Geschichten und, wie gesagt, auch von Menschen, die aus ökonomisch schwächeren Strukturen kommen. Wenn die Branche im Übergang vom Studium zur realen Filmwelt so exklusiv bleibt, werden wir die wichtigsten Geschichten verlieren. Unsere Branche ist die familienunfreundlichste, die ich kenne. Es gibt viele Ansätze, aber es braucht eine Verbindung derer und die Möglichkeit, regionaler zu arbeiten. Da könnte ich lange drüber reden…
Gibt es einen Tipp, den Sie jungen, aufstrebenden Filmemacherinnen gerne mit auf den Weg geben würden?
Kennt euren Wert – oder lernt ihn kennen! Das wird euch durch die Zeit tragen und dafür einstehen lassen, was ihr braucht. Nicht ihr wollt etwas von anderen, sondern die Branche ist auf unsere Geschichten und Perspektiven angewiesen. Der Druck in der Branche ist so hoch, dass sie sich nicht vor Innovation verschließen kann oder eben selbstbewusst untergeht. Also: Macht euch nicht kleiner, als ihr seid, bleibt authentisch und lebt, bevor ihr schreibt.
Was könnten auch wir als Zuschauende tun, um nicht nur die geschlechtliche Vielfalt, sondern die Diversität im Allgemeinen zu fördern?
Alles Mögliche! Redaktionen anschreiben, wenn Figuren besonders modern oder spannend erzählt wurden. Wünsche nach neuen Figuren äußern. Wenn Redaktionen merken, dass ein gesellschaftlicher Bedarf nach neuen Rollenbildern da ist, können sie dies auch vor den Entscheider*innen argumentieren. Manchmal reicht dafür eine einfache Mail aus. Und: Stellt Kritiken online oder teilt sie auf Social Media. Sagt, was euch gefällt!
Abschließend würden wir unserer Community gerne einen kleinen Ausblick gewähren, denn wer wie Sie ein solch außergewöhnliches Talent für die Regie besitzt, hat sicher einige Ideen für künftige Projekte: Gibt es ein Genre oder eine Filmidee, die Sie in Zukunft besonders reizen würden?
In meinem nächsten Film befasse ich mich mit dem Selbstbild jugendlicher Menschen in Zeiten des Rechtsrucks und gründe mit zwei wundervollen Kolleginnen eine Filmproduktion in Weimar.
Wir freuen uns sehr über dieses inspirierende Interview. Liebe Frau Fleischhacker, vielen Dank, dass Sie mit VENA unseren Blick erweitert und diesen fernab vom gewohnten „Male Gaze“, den wir seit Jahrzehnten konsumieren, getragen haben. Sie haben uns eine Vielfalt an Emotionen, Menschen und Geschichten auf die Leinwand gebracht, die zum Nachdenken und Reflektieren anregen.
Über die Autorin
Kinga Bartczak berät, coacht und schreibt zu Female Empowerment, neuer Arbeitskultur, Organisationsentwicklung systemischen Coaching und Personal Branding.
Zudem ist sie Geschäftsführerin der UnternehmerRebellen GmbH und Herausgeberin des FemalExperts Magazins.