Du liest gerade
Urlaubsfrust & mentale Gesundheit oder: Vom Glück Steine zu suchen
Dunkel Hell

Urlaubsfrust & mentale Gesundheit oder: Vom Glück Steine zu suchen

Nora Hille
Urlaubsfrust und mentale Gesundheit-Artikelbild

Sommerzeit, Ferienzeit… Der Urlaub soll (neben Weihnachten) zur schönsten Zeit des Jahres werden – unsere Erwartungen sind daher oft überdimensional: Wir wünschen uns eine angenehme Unterkunft, inspirierende neue Erfahrungen, kulinarische Genüsse und natürlich gutes Wetter. Schließlich wollen wir uns körperlich erholen und mental unseren Akku wieder aufladen.

Das hat bei mir dieses Jahr nicht so ganz geklappt. Und trotzdem gibt es eine überraschende Wendung. Aber lies selbst! Ich nehme dich gerne mit auf meine Reise.

Am Strand

Der frische Geruch von Salzwasser und Algen liegt in der Luft. Ich höre, wie sich die Wellen rhythmisch am Strand brechen. Stapfe durch nassen Sand, knierschenden Kies und Muscheln. Der böige Wind lässt mir die Haarsträhnen ins

Gesicht tanzen. Immer wieder bleiben meine Augen an den unterschiedlichen Steinen hängen.

Feuersteine, Sand- und Kalksteine, rund geschliffene Granitkiesel und – ich nehme sie das erste Mal in meinem Leben wahr – Kuhfleckensteine! Fasziniert bücke ich mich und nehme den ersten in die Hand. Streiche sanft über seine glatte Oberfläche. Ein weißer Stein, aus dem graue Flecken hervorbrechen, weil er aus zwei unterschiedlichen Gesteinsarten zu bestehen scheint. Das salzige Meerwasser, der Wechsel der Temperaturen, das Aneinanderreiben mit anderen Steinen hat über Jahrzehnte, Jahrhunderte oder länger diese geheimnisvollen Muster zu Tage gebracht. Immer wieder bücke ich mich, um die schönsten Exemplare dieser gefleckten Steine aufzuheben.

Urlaubsfrust vergessen

Ich vergesse, dass unser Dänemark-Urlaub dieses Jahr wettertechnisch so richtig in die Hose gegangen ist. 16 bis 17 Grad, dazu meist Dauerregen. Zum Glück funktionierte das WLAN in unserem Ferienhaus. Doch das hatte mit dem intensiven Handygebrauch für mich schmerzhafte Folgen: Heute morgen war ich um 4:30 Uhr aufgewacht mit pochenden Schmerzen in meiner rechten Hand, hochziehend bis in den Arm. Akute Sehnenscheidenentzündung. Weiterschlafen? Unmöglich. Wie bitte lässt sich Urlaubsfrust noch steigern? Aufgrund meiner bipolaren Erkrankung ist es für mich sowieso eine Herausforderung, meine emotionale Balance zu halten. An diesem Tag bin ich kurz vor der Depression.

Beim Steinesammeln zurück zur inneren Mitte finden

Mich retten die Steine. Ich habe mich beim Strandspaziergang von meiner Familie abgesetzt, trödele hinterher. Als wäre ich ganz allein auf der Welt. Nur ich, das Meer, die kreischenden Möwen, die Steine zu meinen Füßen. Immer wieder bücke ich mich, greife nach einem. Betrachte ihn von allen Seiten. Lege ihn zurück oder stecke ihn in meine Jackentasche. Die schmerzende Hand ist vergessen. Genauso mein Urlaubsfrust. Keine Grübelschlaufen mehr. Ich bin total fokussiert. Achtsamkeit vereint sich mit einem Flowzustand höchster Konzentration und gleichzeitig innerer tiefster Entspannung. Eine sanfte, intensive Form von Glücksgefühl wird freigesetzt. Dieser Strandspaziergang mit dem Sammeln der Steine wird für mich zum Highlight des Urlaubs. Ich habe meine innere Mitte wiedergefunden. Mehr noch: warmes, gelbes Glück durchströmt mich.

Eine Extraportion Dopamin

Professor Dr. Christian Elger, Neurologe, erklärt, warum das Sammeln derart positive Gefühle auslösen kann: “Beim Sammeln aktivieren wir unser Belohnungssystem im Gehirn. Das sogenannte Glückshormon Dopamin wird ausgeschüttet und verschafft uns ein besonderes Wohlgefühl.” Mein Steinesammeln hat damit quasi wie ein natürliches Antidepressivum gewirkt, denn Dopaminmangel kann den überdimensionalen seelischen Absturz begünstigen. Die Botenstoffe in meinem Gehirn sind wieder im Lot. Und nicht nur das: Ich habe so viel Dopamin abbekommen, dass es mir nachhaltig besser geht, also über “Normalnull”, und ich die Erinnerung an das wunderbare Glücksgefühl konservieren kann.

Über den Hühnergott

Später lese ich, dass man an den Stränden in Dänemark sehr viele verschiedene Steinarten finden kann, neben den von mir identifizierten sogar noch Bernstein, Fossilien, Porphyr, Flint, Donnerkeile, Hühnergötter und versteinerte Seeigel.1

Meinen ersten Hühnergott, einen selten zu findendenden Feuerstein mit natürlich entstandenem Loch wie auf dem Foto zu sehen, entdecke ich ein paar Tage später.

Er erscheint mir wie ein Gruß aus dem Jenseits von meiner geliebten, letztes Jahr im Alter von 80 Jahren verstorbenen Freundin B., für die ich den Text Freisein geschrieben habe. Sie hatte einige Hühnergötter, muss also auch eine leidenschaftliche Steinesammlerin gewesen sein. Doch gesprochen haben wir nie darüber. In Europa gelten diese Steine übrigens als Glücksbringer. Sie werden traditionell mit einer Schnur um den Hals als Amulett zum Schutz vor Hexen und Geistern getragen oder an Ställen aufgehängt, um Unglück vom Vieh fernzuhalten.2

Daheim im Ferienhaus wasche ich die Steine mit heißem Wasser und Seife, reibe sie danach mit einem mit Desinfektionsmittel getränkten Tuch ab. Wir haben zwei Hauskatzen daheim, wer weiß, was so einem Stein alles anhaften kann. Liebevoll lege ich die Steine auf ein Gitter zum Trocknen. Sie sind unfassbar schön. Ich fühle mich so reich beschenkt und gesegnet.

Im Kontakt mit der Ewigkeit

Wenn ich einen dieser Steine in die Hand nehme, fühlt es sich an, als stünde ich im Kontakt mit der Ewigkeit. Wie alt sie wohl sind?

Diplom-Biologe Dr. Frank Rudolph ist studierter Zoologe und Paläontologe aus Kiel. In seinem Buch “Wie bestimme ich Steine am Strand?” verrät er: “Strandsteine sehen nicht alle gleich aus. Da gibt es rote, gelbe und grüne, gestreifte und gefleckte, leichte und schwere. Sie kommen aus allen skandinavischen Ländern; manche sind ‘nur’ wenige Millionen, manche über zwei Milliarden Jahre alt.”3

Siehe auch
Mentale Gesundheit-Der Leichtigkeit auf der Spur-Artikelbild-abgedunkelt

Millionen Jahre, zwei Milliarden? Ja, das ist wirklich nah dran an dem Wort Ewigkeit. Ein unfassbarer Zeitraum im Vergleich zu einem einzelnen Menschenleben und zur menschlichen Existenz überhaupt, wenn man sich überlegt, dass die ältesten Funde des Homo sapiens laut einer Studie rund 300.000 Jahre alt sind. Und auch die Frühmenschen mit ihren ältesten Vertretern wie dem Homo rudolfensis (vor 2,5 bis 1,9 Mio Jahren) und dem Homo habilis (vor 2,1 bis 1,5 Mio Jahren) wirken im Vergleich zu meinen bis zu zwei Milliarden Jahre alten Schätzen nur so weit entfernt wie ein Katzensprung in der Erdgeschichte.4

Jagen und Sammeln

Kann es sein, dass ich beim Sammeln einem menschlichen Ur-Instinkt nachgehe? In der Altsteinzeit waren wir alle Jäger*innen und Sammler*innen. Diese begann vor rund 2,5 Millionen Jahren und dauerte etwa bis 10.000 vor Christus an.5

Okay, als Nahrung sind meine Steine natürlich untauglich, aber ganz alleine stehe ich in Deutschland mit meiner Leidenschaft fürs Zusammentragen nicht da: In einer repräsentativen Studie der Deutschen Bahn zusammen mit yougove aus dem Jahr 2017 wurde festgestellt, dass mit 59 Prozent mehr als die Hälfte der Deutschen sammeln. Gefragt wurde ebenfalls nach dem Grund dafür. Ergebnis: 26 Prozent der Sammelnden gaben an, dass es sie glücklich macht, unter den 18-24-Jährigen waren es sogar 37 Prozent.

Bildnachweis: Freepik, Madebyoliver, Pixel Buddha, Roundicons – www.flaticon.com / Sammeln kann glücklich machen – das zeigt eine repräsentative Umfrage von der Deutschen Bahn und YouGov

Erinnerungen werden wach

Irgendwann fällt mir ein, dass ich schon einmal auf diese verträumte und beglückende Weise Steine gesammelt habe. Die meine Rettung waren. 17 Jahre ist das her, es war ebenfalls bei einem Dänemark-Urlaub. Mit Anfang 30 hatte mich ein heftiger Burnout aus dem Job katapultiert. Ich erlebte tiefe Depressionen, hatte mich ganz in mein Inneres zurückgezogen. Damals noch kinderlos waren wir mit der Familie meines Mannes für ein paar Tage ans Meer gefahren. Ich mochte weder reden, noch Gesellschaftsspiele spielen. Erst am Meer, beim Steinesammeln, fühlte ich mich wieder lebendig.

Abends erinnere ich mich daran, wie ich als Kind beim Muscheln sammeln dieselben Gefühle hatte. Vielleicht war ich fünf Jahre alt, als ich in Südfrankreich mit einer Campingplatz-Freundin barfuß und mit baumelnden Plastikeimern loslief zum Strand. Stundenlang waren wir alleine unterwegs, entdeckten die schönsten Muscheln. Den Rückweg fanden wir dann nicht mehr, aber Angst hatten wir trotzdem nicht. Schließlich schien die Sonne am strahlend blauen Himmel, wir waren zu zweit und in unseren Eimern trugen wir die herrlichsten Schätze mit uns. In unseren Herzen tanzte das Glück.

Irgendwann sprach uns eine hilfsbereite Frau an und begleitete uns zurück zum Campingplatz. Ob ich Ärger von meinen Eltern bekam? Ich weiß es nicht mehr – so groß, leuchtend und warm ist die Erinnerung an das gemeinsame Muschelsuchen am Meeresstrand. Sie überstrahlt alle anderen, in Vergessenheit geratenen Erinnerungen an diesem Sommer.

Mentale Kraft durch Erinnerung

Ich bin mir sicher, dass meine diesjährige glücksbringende Steinsuche am dänischen Meeresstrand zu einer ähnlich wertvollen, goldenen Erinnerung wird, die ich für immer in mir tragen werde. Die ich bewusst hervorhole, wenn ich meine mentale Gesundheit stärken möchte. Und die manche anderen Eindrücke dieses verregneten Urlaubs mit Leichtigkeit überstrahlen kann.

Die Meeresbrandung
Steine zu meinen Füßen
Sonne im Herzen

  1. https://www.dantravel.de/reisemagazin/naturerlebnisse/faszination-strandsteine/ (Zugriff: 24. Juli 2024) ↩︎
  2. https://esmark.de/huehnergoetter/ (Zugriff: 24. Juli 2024) ↩︎
  3. https://www.wachholtz-verlag.de/Sachbuch-Literatur/Wie-bestimme-ich-Steine-am-Strand.html (Zugriff: 24. Juli 2024) ↩︎
  4. https://www.ardalpha.de/wissen/geschichte/urzeit/homo-sapiens-evolution-geschichte-moderner-mensch-102.html (Zugriff: 24. Juli 2024) ↩︎
  5. Jürgen Richter: Altsteinzeit. Der Weg der frühen Menschen von Afrika bis in die Mitte Europas. Kohlhammer, Stuttgart 2018, S. 7, zitiert nach
    https://de.m.wikipedia.org/wiki/Altsteinzeit (Zugriff: 24. Juli 2024) ↩︎

Über die Autorin

Nora Hille
+ Beiträge

Nora Hille, Jahrgang 1975, verheiratet, zwei Kinder. Studium Geschichte, Literatur- und Medienwissenschaften. 12 Jahre Arbeit im Bereich Kommunikation/PR. Aus gesundheitlichen Gründen verrentet. Im August 2023 ist ihr Mutmachbuch „Wenn Licht die Finsternis besiegt. Mit bipolarer Erkrankung Leben, Familie und Partnerschaft positiv gestalten.” bei Palomaa Publishing erschienen.
Als Betroffene und Erfahrungsexpertin schreibt Nora Hille Artikel zu den Themen mentale Gesundheit und psychische Erkrankungen. Außerdem verfasst sie literarische Essays, Gedichte (sehr gerne Haikus) und Kurzprosa. Beim FemalExperts Magazin erscheint regelmäßig ihre Mental Health-Kolumne. Ihre Kolumne „Noras Nachtgedanken“ veröffentlicht sie beim Online-Magazin viaMag – Das Magazin für eine neue Trauerkultur. Anti-Stigma-Arbeit liegt Nora Hille am Herzen: Sie engagiert sich als Mutmacherin bei Mutmachleute e.V. und setzt sich mit ihren Anti-Stigma-Texten gegen die Stigmatisierung (Ausgrenzung) psychisch kranker Menschen in unserer Gesellschaft für mehr Miteinander, Toleranz und Gleichberechtigung ein. Nora Hille ist Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Bipolare Störungen e.V. (DGBS).

Auf Instagram zu finden unter: @norahille_autorin

Nach oben scrollen
Skip to content