„Hast du was, bist du wer“. Diese Redewendung spiegelt unsere auf Statussymbole, Konsum, materielle Dinge und deren Besitz ausgerichtete Leistungsgesellschaft wider. Doch darf man eigentlich Dinge lieben? Und was macht das seelisch mit uns? Ein spannendes Thema, eng verbunden mit dem Thema „Loslassen“, welches viele Menschen mit ihren guten Vorsätzen fürs neue Jahr angehen wollen.
Menschen und Tiere lieben
Zuallererst liebe ich Menschen: meinen Mann, unsere Kinder, meine Brüder, mir nahestehende Freund*innen und Vertraute. Ich liebe aber auch andere Lebewesen. Unsere beiden flauschig-langhaarigen Katzen, die man so wunderbar streicheln kann. Haustiere zu streicheln, wirkt sich auf unser Wohlbefinden aus, körperlich wie seelisch. Stress wird reduziert, denn Blutdruck und Pulsfrequenz sinken dabei und unser Gehirn schüttet verstärkt die Neurotransmitter Oxytocin und Serotonin aus. [1]
Meine liebsten Besitztümer
Ich liebe aber auch meine unzähligen Bücher. Unser gemütliches Zuhause. Die Familienfotos. Mein Auto, das fast immer in der Garage steht, für mich aber das Versprechen von Freiheit bedeutet. Und ich liebe meine Akupressurmatte, die ich seit einem halben Jahr besitze und auf der ich abends so herrlich entspannen kann.
Angehäuft hat sich bei mir und den meisten anderen aber einiges mehr als das: Ein Deutscher besitzt im statistischen Durchschnitt 10.000 Gegenstände – und fast täglich kommen weitere dazu. [2] Was für eine extrem hohe Zahl!
Das Übergangsobjekt: Unsere erste Liebe zu einem Gegenstand
Schon Säuglinge und Kleinkinder verlieben sich häufig in kuschelige Dinge, die ihnen enorm viel Rückhalt geben können. Schmusedecken oder Plüschtiere werden so bei vielen Kindern zumeist im Alter von vier bis zwölf Monaten zum unentbehrlichen Begleiter und helfen dabei, im Alltag Übergänge zu bewältigen, beispielsweise das Hinübergleiten vom Wachzustand in den Schlaf oder den morgendlichen Abschied in der Kita. Bei diesen und anderen Herausforderungen greifen Kinder quasi automatisch auf die Unterstützung ihres Lieblingsgegenstandes zurück, welcher ausgehend von dem britischen Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald W. Winnicott seit den 1950er Jahren als „Übergangsobjekt“ bezeichnet wird. Dieses hilft dem Kind, Verlustgefühle bezüglich der Mutter zu verarbeiten, denn mit zunehmendem Alter erkennt es, dass die Mutter eigenständig existiert und es keine Allmacht über sie hat. [3]
Einblick ins Familienleben: Übergangsobjekt unseres Sohnes
Die Bedeutung von Übergangsobjekten kann also gar nicht hoch genug geschätzt werden, oft werden sie bis ins Erwachsenenalter hinein aufgehoben. Bei unserem Sohn war es jedenfalls ein kleines Stoffhündchen, weiß-braun-schwarz gefleckt mit langen Schlappohren und einem treuen Blick, das ich günstig auf einem Basar gekauft hatte. Nach seinem Mittagsschlaf kam unser Sohn ins Wohnzimmer gelaufen und entdeckte auf dem Heizkörper das frisch gewaschene und noch etwas feuchte Hündchen. Er lief direkt darauf zu. Nahm es in die Hand, strahlte über sein ganzes Gesicht. Es entspann sich ein Gespräch, wie dieses Hündchen denn wohl heißen könnte. Wir Eltern machten ein paar Vorschläge, der letzte lautete Susi. Da schaut er uns mit seinen großen braunen Augen an und sagte: „Nein, das ist doch Susu!“
Ein Begleiter in allen Lebenslagen
Ab da war Susu überall dabei: im Kindergarten, mittags und abends beim Schlafen, auf dem Weg zum Supermarkt, bei der Ausfahrt mit dem Buggy. Ich hatte panische Angst, die kleine Hundedame könnte verloren gehen. Deswegen bekam sie eine schicke rote Hunde-Lederleine, die wir im Spielzeugladen kauften.
Mit Susu sind viele positive Erinnerungen verbunden. Sie hat unserem Sohn Sicherheit gegeben, wenn er ohne uns unterwegs war. Abends im Bett hat er ihr vermutlich seine Sorgen erzählt und sie hat ihn IMMER verstanden. Und er hat mit ihr so manches Abenteuer erlebt: Ich erinnere mich an eine Szene, als Susu im Kindergarten ins Klo fiel, pitschnass nach Hause kam und dann erst mal mit ordentlich Desinfektionsmittel einen Schleudergang in der Waschmaschine hinter sich bringen musste. Mittlerweile ist unser Sohn 14, aber das kleine Stoffhündchen wohnt weiterhin in seinem Bett – und in seinem Herzen.
Was geschieht psychologisch, wenn wir Dinge lieben?
Was aber macht es mit uns, wenn wir als Erwachsene ganz alltägliche Gegenstände lieben? Zunächst bedeutet es, dass wir diese Dinge mit einer emotionalen Bedeutung aufladen. Ihr Besitz gibt uns Sicherheit, ein gutes, warmes Gefühl. Und das wiederum erschwert es uns, diese Gegenstände irgendwann wieder loszulassen, selbst wenn wir sie nicht länger benötigen. Ein Zuviel an Gegenständen in unserem Zuhause kann uns so nach und nach die Luft zum Atmen nehmen.
Dinge und Besitz
beschweren deine Seele
Sehnsucht nach Freiheit
Das eine Extrem: Messi-Syndrom …
Als extremes Beispiel auf der einen Seite der Skala „Gegenstände lieben“ kann man (neben objektophilen Menschen) das Krankheitsbild Messi-Syndrom ansehen, hinter dem sich häufig Zwangsstörungen mit einer meist neurotischen Angst vor dem Loslassen verbergen. Jeder Gegenstand ist wichtig, nichts kann mehr weggeworfen werden. Sogar leere Konservendosen oder alte Zeitungen erscheinen wertvoll und werden gehortet. Der Ursprung dieses Verhaltens kann in einer intensiven Verlust-Erfahrung liegen (Tod eines Familienmitgliedes, Trennung o.Ä.).
Arm ist nicht der, der wenig hat,
Jean Guéhenno, französischer Schriftsteller, 1890-1978
sondern der, der nicht genug bekommen kann.
Im Sinne dieses Zitates ist jemand, der immer mehr Gegenstände oder gar Müll als eine äußere Form von Reichtum anhäuft, ein Mensch mit einem bodenlosen Loch in seiner Seele. Da existiert ein Schmerz, der kurzfristig betäubt wird mit jedem neuen Gegenstand, sich von einem immer Mehr am Besitz aber nicht heilen lässt.
Es gibt auch objektophile Menschen, die sich in einer Liebesbeziehung zu einem Gegenstand wähnen, teils sogar sexuelle Anziehung verspüren. Sie sind der Meinung, dass ihre Gefühle von diesem geliebten Objekt erwidert werden.
… das andere Extrem: Minimalismus
Auf der anderen Seite stehen Minimalist*innen und das „simplify your life-Konzept“, getragen von dem Gedanken, sich im eigenen Leben mit dem Besitz von möglichst wenigen, dann aber nützlichen Gegenständen zu belasten. Die Tiny House-Bewegung und das „100 Dinge“-Konzept sind anschauliche Beispiele für diese andere Seite der Skala.
Zwischenfazit Gegenstände lieben und mentale Gesundheit
Ein Gegenstand verfügt über keine Gefühle und kann uns nicht zurücklieben, egal wie flauschig er ist, egal wie niedlich er aussieht, egal wie gut er uns womöglich gefällt. Als Zwischenfazit und im Hinblick auf unsere mentale Gesundheit zeigt sich, dass die Frage „darf ich Gegenstände lieben?“ deswegen anders formuliert werden muss. Ja, natürlich darf ich einzelne Gegenstände lieben, die eine besondere Bedeutung für mich haben – solange mir das gut tut, nicht überhandnimmt oder gar zwanghaft wird. Genauso wichtig ist es aber, sich von Gegenständen trennen zu können, um nicht am Ende in ihrer Fülle zu ersticken.
Die Frage sollte also lauten:
• Welche Gegenstände zu lieben tut meiner Seele gut?
Und ich möchte noch ergänzen:
• Welche Gegenstände überfrachten mich und mein Leben?
Mein Bezug zum Thema
Ich habe für die aktuelle Kolumne dieses Thema ausgewählt, weil ich selbst Schwierigkeiten habe, Gegenstände loszulassen. Warum aber ist es für manche von uns im Alltag so schwer, sich von Gegenständen zu trennen, die man nachweislich eine lange Zeit schon nicht mehr benutzt hat? Und warum ist „Ausmisten“ für andere wiederum ein Leichtes, ein regelrechter Befreiungsschlag?
Emotionales Loslassen
Hinter den Phänomenen des Anhäufens materieller Besitztümer oder eben des Auslebens von Minimalismus steht noch ein größeres Thema, das direkt unsere mentale Gesundheit betrifft: unsere generelle Fähigkeit, emotional loszulassen:
Sich von seelischem Ballast, Schuldgefühlen oder traumatischen Erlebnissen zu lösen, bedeutet, sie als geschehen zu akzeptieren und als Vergangenheit anzusehen. [4]
Gelingt es einem Menschen nicht, die oben beschrieben psychischen Belastungen loszulassen, wirkt sich das unmittelbar auf dessen Lebensqualität aus. Gleiches gilt, wenn man in Situationen verharrt, die einem nicht (mehr) gut tun, wie ein ungeliebter Job oder eine gescheiterte Beziehung. Auch hier ist Loslassen nötig.
Krankheitssymptome, wenn emotionales Loslassen nicht gelingt
Ohne ein emotionales Loslassen können sogar Krankheitssymptome entstehen wie beispielsweise…
Psychisch:
- innere Unruhe, Gedankenkreisen/Grübeln,
- Konzentrationsstörungen,
- Schlafstörungen,
- Traurigkeit,
- Mutlosigkeit,
- depressive Verstimmung oder Depressionen,
- Schuld-/Wut-/Hassgefühle,
- Ängste und Panikattacken,
- Verdrängung,
- Suchtverhalten und Substanzmissbrauch,
- Selbstablehnung,
- Selbstwertstörungen etc.
Psychosomatisch:
- Kopfschmerzen,
- Rückenschmerzen,
- nächtliches Zähneknirschen,
- Bauchschmerzen und
- Verdauungsbeschwerden etc.
Loslassen beginnt im Kopf
Ein erstickendes Zuviel an Gegenständen, aber auch belastende Situationen aus Gegenwart und Vergangenheit loszulassen, ist also ein wichtiger psychischer Prozess für unsere mentale Gesundheit und als Folgewirkung auch für unser körperliches Wohlbefinden.
Dieser Prozess beginnt im Kopf, mit der bewussten Entscheidung „ich bin bereit loszulassen.“ Ist diese Entscheidung einmal gefallen und emotional verankert, können wir in unserem Tempo mit dem Loslassen beginnen.
Arbeiten an unserem Mindset
Es ist unter anderem möglich, mit positiven Glaubenssätzen an der Erweiterung des eigenen Mindset (also an unseren individuellen Einstellungen und der Art, wie wir fühlen und handeln) zu arbeiten. Beim Thema Loslassen könnten sich positive Glaubenssätze, die man am besten täglich beispielsweise vor dem Einschlafen übt, folgendermaßen anhören:
- Alles, was ich zum Glücklichsein brauche, trage ich bereits in mir.
- Mit jedem Gegenstand, den ich fortgebe, wächst meine innere Freiheit.
- Ich spüre Erleichterung, wenn ich mich von Dingen verabschiede.
- Wenn ich loslasse, fühle ich mich jedes Mal leichter und freier.
- Ich erlaube mir, alte Verletzungen loszulassen.
- Ich lasse los. Wunden dürfen heilen.
Ein besonders passender Glaubenssatz kann als inneres Selbstgespräch wiederholt werden, während man sich dem Aussortieren widmet. Das kann die innere Balance stärken, während man sich der mentalen Herausforderung des Loslassens stellt.
Manchmal kann es hilfreich sein, zunächst aufzuschreiben, was man loslassen will (Gegenstände genauso wie Emotionen), und sich diese Punkte dann nacheinander vorzunehmen. Und es ist völlig okay, sich dabei Unterstützung zu holen, zum Beispiel von einer vertrauten Person.
Die 5 magischen Tipps der Aufräum-Expertin Maria Husch
Auch ein Onlinekurs kann eine gute Unterstützung beim Loslassen von Gegenständen und dem Trainieren eines Ordnungssinns sein, zum Beispiel von der Aufräumexpertin Maria Husch. Zum Thema Entrümpeln verrät sie 5 magische Tipps [5]:
- Starte nur dann, wenn es Dir mental wirklich gut geht.
- Starte mit Dingen, die leicht gehen (Beispiel Altpapier, Kleider).
- Suche dir kleine, überschaubare Projekte (wie beispielsweise eine Schublade) und achte auf kurze Zeiteinheiten (10-30 Minuten), denn so kann man schnell Erfolge verbuchen.
- Entrümple dort, wo du dich wohl fühlst (auf dem Esstisch oder Sofa, nicht im muffig-dunklen Keller).
- Das Abgeben muss möglichst leicht gehen, möglichst alle Sachen an einem Ort (z.B. Spende für Flohmarkt, Soziales Kaufhaus) und achte darauf, dass die aussortierten Dinge maximal noch 2 Tage in deinem Haushalt bleiben.
Wie wir uns fühlen, wenn Loslassen gelingt
Gelingt uns das Loslassen – sei es von einer uns erstickenden Masse an Gegenständen, sei es von belastenden Gefühlen – kann dies einem Befreiungsschlag gleichkommen: Wir sind stolz auf uns und fühlen uns wortwörtlich erleichtert.
Ballast loslassen
spüre Leichtigkeit und den
Gesang des Windes
Und was ist mit Susu?
Obwohl unser Sohn inzwischen 14 Jahre ist, hat dieses kleine Hündchen immer noch einen Platz in seinem Bett. Würde das eines Tages anders sein (unvorstellbar), dürfte Susu sofort in mein Bett einziehen. Und zwar selbst dann, wenn ich bis dahin zur 100-Gegenstände-Verfechterin mutiert sein sollte.
[1] „Balance für die Seele. Tierische Helfer.“ In: Land & Leute. Das Landmagazin ihrer Tageszeitung. Oktober 2021, S. 40-42, S. 42.
[2] Quelle: https://psychologie-journal.de/minimalismus/1197/wie-viele-dinge-braucht-der-mensch/ (Zugriff: 19 August 2022).
[3] Quelle: https://www.kinderfreundliche-sachsen.de/kinderarche-knigge/uebergangsobjekte-wichtige-begleiter-der-kinder.html (Zugriff: 19. August 2022).
[4] Quelle: Online-Artikel: Die hohe Kunst des Loslassens lernen. https://diepsyche.de/die-hohe-kunst-des-loslassens-lernen/# (Zugriff 28. August 2022).
[5] Maria Husch: YouTube-Video Raumtalk #44 – Entrümpeln leicht gemacht – mit diesen 5 magischen Tipps schaffst du es endlich. Veröffentlicht am 8. März 2018. Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=iHXkF4Nc69w (Zugriff: 8. September 2022).
Über die Autorin
Nora Hille, Jahrgang 1975, verheiratet, zwei Kinder. Studium Geschichte, Literatur- und Medienwissenschaften. 12 Jahre Arbeit im Bereich Kommunikation/PR. Aus gesundheitlichen Gründen verrentet. Im August 2023 ist ihr Mutmachbuch „Wenn Licht die Finsternis besiegt. Mit bipolarer Erkrankung Leben, Familie und Partnerschaft positiv gestalten.” bei Palomaa Publishing erschienen.
Als Betroffene und Erfahrungsexpertin schreibt Nora Hille Artikel zu den Themen mentale Gesundheit und psychische Erkrankungen. Außerdem verfasst sie literarische Essays, Gedichte (sehr gerne Haikus) und Kurzprosa. Beim FemalExperts Magazin erscheint regelmäßig ihre Mental Health-Kolumne. Ihre Kolumne „Noras Nachtgedanken“ veröffentlicht sie beim Online-Magazin viaMag – Das Magazin für eine neue Trauerkultur. Anti-Stigma-Arbeit liegt Nora Hille am Herzen: Sie engagiert sich als Mutmacherin bei Mutmachleute e.V. und setzt sich mit ihren Anti-Stigma-Texten gegen die Stigmatisierung (Ausgrenzung) psychisch kranker Menschen in unserer Gesellschaft für mehr Miteinander, Toleranz und Gleichberechtigung ein. Nora Hille ist Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Bipolare Störungen e.V. (DGBS).
Auf Instagram zu finden unter: @norahille_autorin