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Mentale Gesundheit: Der Leichtigkeit auf der Spur oder Tanzen, Singen, Loslassen
Dunkel Hell

Mentale Gesundheit: Der Leichtigkeit auf der Spur oder Tanzen, Singen, Loslassen

Nora Hille
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Sehnt ihr euch auch gerade nach mehr Leichtigkeit in eurem Leben? Weil Arbeit, private Termine, Leistungsdruck und Stress überhand genommen haben? Dann verstehe ich euch sooooo gut und lade euch ganz herzlich ein, in der aktuellen Kolumne mit mir gemeinsam der Leichtigkeit auf die Spur zu kommen.

Darum geht’s im Einzelnen:

Jahreswunsch und Motto Leichtigkeit

Zum Ende eines jeden Jahres stelle ich mir die Frage, welches Motto oder welchen Wunsch ich für das nächste Jahr wählen möchte. Für 2023 war es „mentales Wachstum“. Denn schon zu Beginn des letzten Jahres wusste ich, dass mein Mutmachbuch „Wenn Licht die Finsternis besiegt“ über den Umgang mit meiner Bipolaren Störung im Herbst erscheinen und ich mich ab dann der Öffentlichkeit mit meiner psychischen Erkrankung zeigen würde. Nach gut 20 Jahren der Geheimhaltung der Erkrankung eine Riesen-Herausforderung, in die ich aber mehr und mehr hineinwachsen konnte. Doch genau wegen der Buchveröffentlichung war das letzte Jahr für mich auch unfassbar anstrengend, sodass ich seit Oktober in einen ausgeprägten Erschöpfungszustand rutschte. 

Vielleicht kennt ihr das: Allein der Anblick des Computers und das Wissen, in hochfahren und daran arbeiten zu müssen, löste tiefen Widerwillen in mir aus. Und wenn ich dann endlich am Schreibtisch saß, war ich so ganz und gar nicht effektiv, sondern fühlte mich innerlich zunehmend gelähmt. Das führte dazu, dass mir ab Oktober 2023 kaum noch etwas leicht von der Hand ging, ja, ich mich sogar kurz vor einem Burn-Out fühlte…

Gedanken bleischwer 
des Nachts in meinen Träumen
Felsengesteine

(N. Hille)

Anerkennung der Erschöpfung

Trotzdem dauert es über einen weiteren Monat, bis ich bereit war, meinen Erschöpfungszustand zu akzeptieren und mir die nötigen Ruhepausen zuzugestehen: Nachdem ich eines Tages unsere Wunschgroßeltern zum Kaffeetrinken besucht und ihnen von meinem mittlerweile schon wochenlang andauernden Erschöpfungszustand berichtet hatte, kam mir beim Autofahren auf dem Heimweg plötzlich genau dieser Gedanke:

Es ist okay, erschöpft zu sein.

… und ich spürte eine radikale Akzeptanz und damit einhergehend sofort Erleichterung!

Ja, es ist okay, wenn wir uns erschöpft fühlen. Und ich glaube, dass genau dieses „Okay“, wenn wir es uns endlich innerlich geben, den Wendepunkt darstellen kann: 

  • Nicht mehr damit hadern, was gerade alles nicht geht.
  • Sich nicht mehr unter Druck setzen und zu Leistung wie in Normalzeiten zwingen.

Stattdessen schauen:

  • Was uns gerade jetzt gut tut.
  • Was geht und was nicht.
  • Durchatmen.
  • Uns Pausen gestatten.
  • Darauf vertrauen, dass die Kraft zurückkehren wird, wenn wir unsere Erschöpfung akzeptieren. 

Da für mich Leistung und Selbstdisziplin auch in den schwersten Zeiten meines Lebens, gerade auch für das Überleben von Traumata, immer „DAS Rezept“ waren und ich mich jahrzehntelang immer zum Durchhalten gezwungen hatte, machte mich diese neue Akzeptanz sehr glücklich.

Darum nochmal: Ja, es ist okay, erschöpft zu sein. Es ist okay, wenn du dich derzeit erschöpft fühlst.

Mögliche körperliche Ursachen überprüfen lassen

Hält die Erschöpfung länger an, ist der Gang zur Hausarztpraxis nötig, um körperliche Ursachen ausschließen zu können. Denn möglicherweise kann der psychische Erschöpfungszustand durch körperliche Ursachen verursacht oder verschlimmert werden.

So kann ein Blutbild beispielsweise Aufschluss über einen möglichen Eisen- oder Vitamin-D- bzw. -B12-Mangel liefern, beides kann zu Erschöpfungszuständen führen. Nicht ausgeheilte Infekte, falsche Schilddrüsenwerte oder versteckte Entzündungen können ebenfalls mit medizinischer Hilfe aufgespürt und angemessen behandelt werden. Und auch für die Diagnose einer möglichen Depression, die sich als Erschöpfungszustand zeigen kann, ist die Hausarztpraxis erste Anlaufstelle.

Sich Rückzug und Pausen gönnen…

Mentale Gesundheit: Leichtigkeit
Foto: fizkes – shutterstock

Nun gilt es, sich ganz bewusst für mehr Pausen im Alltag zu entscheiden. Ist aktuell (noch) keine Krankschreibung erforderlich, so finden sich im Job durch Überstundenabbau, flexible Arbeitszeiten, Arbeitszeitkonten und – sofern frau nicht selbstständig tätig ist – ein vertrauensvolles Gespräch mit Vorgesetzten Stellschrauben für Entlastungen. Zusätzlich zur normalen Mittagspause bietet es sich an, die Arbeit häufiger für kleine Pausen zu unterbrechen, die man mit körperlichen Übungen unterstützen kann. (Hier kann zum Beispiel eine regelmäßige Erinnerung durch den Handywecker/App oder Bildschirmschoner hilfreich sein, um eine neue Gewohnheit zu etablieren.)

Für familiäre und andere soziale Kontakte ist jetzt ebenfalls ein guter Zeitpunkt, genau zu schauen, was unterstützt und guttut. Temporärer Rückzug aus anstrengenden oder sehr fordernden Beziehungen kann ebenso Entlastung schenken wie ein reduziertes Freizeitprogramm.

Aber Achtung: So wichtig Pausen und bei Bedarf sozialer Rückzug auch sind, wenn man stark erschöpft ist, muss man doch aufpassen, nicht in eine Abwärtsspirale und damit Depression zu rutschen. Abwärtsspirale meint hier, dass sich Antriebslosigkeit und gedrückte Stimmung gegenseitig verstärken. Dazu heißt es auf der Homepage der Stiftung Deutsche Depressionshilfe: „… Rückzug aber führt zu einem Verlust an Aktivität. Das Fehlen von sozialen Kontakten, Anregungen und Impulsen von außen verstärkt dann zusätzlich die depressive Verstimmung. Die Folge ist ein noch weitergehender Rückzug mit noch größerem Kontaktverlust, der in totaler Isolierung und Passivität enden kann.“1

… aber auch die Aufwärtsspirale nutzen

Stattdessen empfiehlt es sich, selbst bei ausgeprägter Erschöpfung neben Rückzug und Pausen die sogenannte Aufwärtsspirale einzusetzen und damit zu versuchen, nach und nach eine neue Form der Balance zu erreichen. Denn Handeln und Denken stehen immer in einer engen Verknüpfung: Aktiviert man sich beispielsweise zu Spaziergängen in der Natur, einzelnen Treffen mit lieben Menschen in angenehmer Atmosphäre oder zu Körperpflege und vielleicht ein bisschen Wellness, können sich diese Handlungen positiv auf Gedanken, Stimmungslage und so auch sukzessive auf den Erschöpfungszustand oder eine mögliche Depression auswirken.

Gerade zu Anfang kann dies sehr herausfordernd sein: 

  • Aufstehen, obwohl man lieber im Bett bleiben möchte.
  • Sich mit Freunden verabreden, obwohl man lieber allein sein will.
  • Sport treiben, auch wenn man eigentlich kaum Kraft dafür hat. 

Solche Veränderungen benötigen Zeit und Geduld. Doch Dranbleiben lohnt sich – mit der Zeit wird es oft leichter. Und damit sind wir ja auch schon fast wieder beim Wort und Lebensgefühl „Leichtigkeit“ angekommen.

Ideen und Beispiele für mehr Leichtigkeit

Es gibt Aktivitäten, die den ganzen Körper einbeziehen, sich besonders positiv auf unsere Stimmungslage auswirken können und uns dabei helfen, leere Akkus wieder aufzuladen und zurück zu unserer Leichtigkeit zu finden. Was zu uns am besten passt, ist individuell. Doch ich denke jetzt gerade besonders an:

  • Tanzen bzw. Sport und Bewegung
  • Singen

… und habe hierzu im Rahmen der Kolumne NATÜRLICH einen kleinen Selbsttest durchgeführt.

Tanzen: Discofox-Tanzkurs

Zeichnerin Anja Schröder zaubert mit ihren schnellen und Leichtigkeit versprühenden Sketchnotes, gern krumm und schief, den Betrachtenden ein Lächeln ins Gesicht. Mehr: https://www.sketchiesbyanja.de (Zeichnung: Anja Schröder)

Weil es mir Ende 2023 bei dem runden Geburtstag einer Freundin so viel Spaß machte, nach langer Zeit mit meinem Mann mal wieder Discofox zu tanzen, kam ich auf die Idee, dass wir uns zu Weihnachten doch einen Tanzkurs schenken könnten, um unsere eingerosteten Kenntnisse aufzufrischen. Gesagt, getan: Ab Jahresbeginn machten wir jeden Sonntag die Tanzfläche unsicher und stellten dabei fest, dass wir körperlich, aber auch von der Konzentration her ordentlich gefordert waren. 

Siehe auch
Role Model Interview mit Autorin und Mental Health Kolumnistin Nora Hille-Artikelbild

Durch die Musik, die nette Gemeinschaft und die tolle Atmosphäre hatte ich beim Tanzen ein Dauer-Honigkuchenpferd-Grinsen im Gesicht. Und obwohl ich es zunächst gar nicht mit dem Tanzkurs in Verbindung brachte, gewann ich im Laufe des Monats Januar immer mehr von meiner Energie zurück. Als ich den Zusammenhang realisierte, dachte ich mir, dass ich ruhig noch weitere Aktivitäten für mehr Leichtigkeit ausprobieren könnte.

Der Einfluss von Musik auf unsere Stimmung

Musik kann unsere mentale Gesundheit ganz wunderbar stärken, denn sie kann uns Freude schenken, trösten, entspannen, aktivieren oder träumen lassen. Schon das morgendliche leicht schiefe Trällern unter der Dusche versüßt uns so den Start in den Tag. 

Sogar Kühe fühlen sich wohler und geben mehr Milch, wenn sie mit ihrer Lieblingsmusik beschallt werden: Psycholog*innen der Universität von Leicester haben im Rahmen einer repräsentativen Studie im Jahr 2001 über 1.000 Kühen neun Wochen lang Musik verschiedener Genres vorgespielt. Das Ergebnis war faszinierend: Bei langsamer Musik (unter 100 Beats pro Minute) produzierten die Kühe täglich drei Prozent mehr Milch als an musikfreien Tagen. Beethovens Symphonie Nr. 6, Simon & Garfunkels „Bridge over troubled water“ und Lou Reeds „A perfect day“ erwiesen sich als absolute Chartstürmer. Schnelle Musik mit mehr als 120 Beats pro Minute dagegen verringerte die Milchmenge deutlich. 2

Auch beim Menschen verbessert Musik (hören oder selbst musizieren) die mentale Gesundheit signifikant. Wohlbefinden und Lebensqualität steigen, was beispielsweise in der Musiktherapie genutzt wird und ebenfalls durch Studien nachgewiesen ist: So untersuchten im Jahr 2022 J. Matt McCrary, Eckart Altenmüller, Clara Kretschmer und andere in ihrer Meta-Analyse „Association of Music Interventions With Health-Related Quality of Life. A Systematic Review and Meta-analysis“ 26 Studien aus verschiedenen Ländern inklusive Australien, Großbritannien und den USA. Dort heißt es unter anderem „… music interventions are associated with clinically significant changes in mental health-related quality of life (HRQOL).“3

Singen: Early Bird Chor

Vor Jahren hatte ich abends im Chor gesungen und immer sehr viel Spaß dabei. Leider wurde es für mich aufgrund meiner chronischen psychischen Erkrankung irgendwann unmöglich, da ich anschließend nachts nicht mehr schlafen konnte. Schon länger wusste ich, dass es bei uns im Kulturtreff einen Vormittagschor gibt. Da ich aus gesundheitlichen Gründen verrentet bin und mir meine Tätigkeit als Autorin frei einteilen kann, wollte ich das jetzt unbedingt ausprobieren.

Noch vor Ostern ging ich „zum Schnuppern“ hin und wurde herzlich willkommen geheißen. Die überwiegend leicht einzustudierenden, fröhlichen Lieder ermöglichten es mir, von Anfang an beschwingt mitzuträllern. Mittlerweile war ich schon fünf mal dabei und bin fest angemeldet. Und ja: Das gemeinsame Singen macht mir jedes Mal richtig viel Freude!

Leistungsdenken loslassen

Zeichnung: Anja Schröder

Doch bei meiner Reise „der Leichtigkeit auf der Spur“ habe ich festgestellt, dass es bei mir ein enormes inneres Hindernis gibt, das mir jederzeit gern wieder reingrätschen möchte, und das ist meine ausgeprägte Leistungsorientierung. So hatte ich heute den Gedanken, nicht zum Chor gehen zu dürfen, da ich ja dringend diese Kolumne und auch einen Artikel schreiben muss. Ganz im Sinne der Redewendung „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.“ Und wenn die Arbeit nicht erledigt ist, muss das Vergnügen wohl ausfallen… So habe ich früher fast immer gedacht und anschließend selbstschädigend gehandelt. 

Doch diesmal hüpfte mir der spontane Gedanke ins Hirn: „Aber der Chor macht mir doch so viel Spaß. Und genau dieser Aspekt schenkt mir Kraft und Leichtigkeit, um danach meine Aufgaben anzugehen!“ Und *Trompeten-Tusch*: Ich bin heute Vormittag zum Chor gegangen und sitze nun nachmittags am PC an dieser Kolumne. 

Aber mehr noch: Als mir klar geworden ist, dass sich mein Leistungsdenken dem Wunsch nach mehr Leichtigkeit schnell in den Weg stellen kann, habe ich beschlossen, diverse weitere für diese Ausgabe der Kolumne angedachte Aspekte einfach wegzulassen und sie in Zukunft womöglich als gesonderte Themen aufzugreifen.

Denn diese Kolumne heißt „Der Leichtigkeit auf der Spur“ – ein Titel, der eine Reise beschreibt, die ich gerade erst begonnen habe und für die ich im Rahmen meines Jahresmottos „Leichtigkeit“ in 2024 noch ganz viel Zeit habe. Und wenn ich will, noch so viel länger… Doch spüre ich sie schon, diese wundervolle neue Leichtigkeit, und kann sie für euch zum Abschluss in ein weiteres Haiku, also ein dreizeiliges Gedicht in japanischer Tradition, einfließen lassen: 

Fliege mit dem Wind
empor geliebte Seele 
so leicht und befreit

(N. Hille)

  1. Online-Artikel „Verhaltenstherapie“, Abschnitt „Depressionsspirale“ auf der Homepage der Deutschen Depressionshilfe. Online verfügbar unter: https://www.deutsche-depressionshilfe.de/wissen/depressionen-behandeln/psychotherapie (Zugriff: 28. April 2024). ↩︎
  2. Online-Artikel „Die Rolle von Musik beim Melken“, online verfügbar unter: https://www.dialog-milch.de/die-rolle-von-musik-beim-melken/
    (Zugriff: 28. April 2024). ↩︎
  3. McCrary, J. Matt; Altenmüller, Eckart; Kretschmer, Clara et al: „Association of Music Interventions With Health-Related Quality of Life. A Systematic Review and Meta analysis“ In: Journal of the American Medical Association Network Open, March 2022. Online verfügbar unter: https://jamanetwork.com/journals/jamanetworkopen/fullarticle/2790186 (Zugriff: 28. April 2022). ↩︎

Über die Autorin

+ Beiträge

Nora Hille, Jahrgang 1975, verheiratet, zwei Kinder. Studium Geschichte, Literatur- und Medienwissenschaften. 12 Jahre Arbeit im Bereich Kommunikation/PR. Aus gesundheitlichen Gründen verrentet. Im August 2023 ist ihr Mutmachbuch „Wenn Licht die Finsternis besiegt. Mit bipolarer Erkrankung Leben, Familie und Partnerschaft positiv gestalten.” bei Palomaa Publishing erschienen.
Als Betroffene und Erfahrungsexpertin schreibt Nora Hille Artikel zu den Themen mentale Gesundheit und psychische Erkrankungen. Außerdem verfasst sie literarische Essays, Gedichte (sehr gerne Haikus) und Kurzprosa. Beim FemalExperts Magazin erscheint regelmäßig ihre Mental Health-Kolumne. Ihre Kolumne „Noras Nachtgedanken“ veröffentlicht sie beim Online-Magazin viaMag – Das Magazin für eine neue Trauerkultur. Anti-Stigma-Arbeit liegt Nora Hille am Herzen: Sie engagiert sich als Mutmacherin bei Mutmachleute e.V. und setzt sich mit ihren Anti-Stigma-Texten gegen die Stigmatisierung (Ausgrenzung) psychisch kranker Menschen in unserer Gesellschaft für mehr Miteinander, Toleranz und Gleichberechtigung ein. Nora Hille ist Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Bipolare Störungen e.V. (DGBS).

Auf Instagram zu finden unter: @norahille_autorin

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