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Sexualität ist politisch – Heike Kleen über Gleichberechtigung, Intimität und Tabus

Sexualität ist politisch – Heike Kleen über Gleichberechtigung, Intimität und Tabus

Kinga Bartczak
Heike Kleen über Gleichberechtigung, Intimität und Tabus-Artikelbild

1. Für dein Buch »ZusammenKommen« hast du deine Komfortzone verlassen und dich auf eine sehr persönliche Entdeckungsreise begeben. Gab es hierbei einen Moment, der dich emotional besonders überrascht oder berührt hat – positiv oder negativ?

Oh ja, gleich mehrere. Ich habe in der Recherche bewusst Räume betreten, die außerhalb meines bisherigen Erfahrungshorizonts lagen: ein BDSM-Studio, ein Swingerclub, Interviews mit Sexarbeiter*innen, Gespräche mit Menschen, die andere Beziehungs- und Lustkonzepte leben. Ich wollte nicht nur über Sex schreiben, sondern verstehen, wie sehr wir alle geprägt sind – und wie sehr diese Prägung unsere Lust begrenzt.

Ein Moment, der mich besonders berührt hat, war das Gespräch mit einer Frau Mitte vierzig, die mir sagte, sie habe ihren Körper nur durch Männerblicke kennengelernt – und lange nicht gewusst, wie sie ihn selbst begehren kann. Das hat mich tief getroffen. Weil ich spürte: Sie spricht etwas aus, das viele von uns betrifft. Unsere Sexualität ist nicht nur privat, sie ist politisch, kulturell geprägt, voller Erwartungen und Zuschreibungen. Diese Erkenntnis hat mich gleichzeitig traurig und wütend gemacht – aber auch ermutigt. Denn sie bedeutet: Wir können neu lernen. Uns neu begegnen.

2. Wie gehst du persönlich mit Scham oder Unsicherheiten rund um Sexualität um – und hat sich dein Umgang damit durch die Recherche verändert?

Foto: Eva Häberle

Scham ist eine sehr menschliche Emotion – und gerade in Bezug auf Sexualität fast schon systematisch eingebaut. Denn Sexualität ist ein Bereich, in dem wir besonders verletzlich sind. Und die Scham, die sich in unseren Körpern eingenistet hat, stammt oft gar nicht aus unserem eigenen Erleben, sondern aus den gesellschaftlichen Zuschreibungen des Patriarchats: Was eine Frau darf, wie ein Mann zu sein hat, was „normal“ ist.

Während der Arbeit am Buch habe ich gelernt, meine Scham nicht länger als Schwäche zu sehen, sondern als Einladung zur Reflexion: Warum schäme ich mich in dieser Situation? Wer hat mir beigebracht, dass das peinlich oder falsch ist? Ich merke heute viel schneller, wenn sich bei mir alte Prägungen einschleichen. Dann rede oder schreibe ich darüber – oder versuche, sie mit Humor zu nehmen.

3. Wie haben deine ostfriesischen Wurzeln und deine Erfahrungen als Mutter deine Sicht auf Gleichberechtigung und Sexualität beeinflusst?

Ich bin aufgewachsen in einer Region, in der tradierte Rollenmuster herrschten und vieles unausgesprochen bleibt: Gefühle, Konflikte, auch Körperlichkeit. Gleichzeitig habe ich dort gelernt, wie wichtig Verlässlichkeit und Bodenhaftung sind. Beides begleitet mich bis heute.

Als Mutter habe ich erlebt, wie stark traditionelle Rollenmuster immer noch wirken – selbst wenn man sie längst hinter sich gelassen glaubte. Das Muttersein hat meine feministische Brille geschärft, aber mich auch weicher gemacht. Und ich habe auch gemerkt, wie die Kombination aus Mental Load und körperlicher Erschöpfung die Libido killt.

4. In deiner SPIEGEL-Kolumne „Liebesleben“ sprichst du offen über Sexualität, Beziehungen und gesellschaftliche Tabus. Was treibt dich an, diese Themen so offen und ehrlich zu behandeln?

Tabus zu brechen macht mir Spaß. Aber ich schreibe auch, weil ich wütend bin. Auf ein System, das Frauen noch immer zu Objekten und Männer zu Bestimmern macht – aktuell wieder mehr als noch vor ein paar Jahren.

Aber ich mache das auch, weil ich Hoffnung habe: Dass wir lernen können, besser miteinander umzugehen. Ich denke, dass wir alle uns nach echter Nähe sehnen. Und wenn wir ehrlich über das sprechen, was uns bewegt, entsteht etwas Echtes. Ich bin auch nur eine Suchende, Lernende – wie wir alle. Aber ich kann mit dem Schreiben Räume öffnen: für Zweifel, für Sehnsucht, für Mut. Und das macht mir Spaß.

5. Du schreibst: „Nichts ist erotischer, als gemeinsam in Gleichberechtigung zu investieren.“ Wie kann echte Gleichberechtigung das Liebesleben von Paaren bereichern?

Gleichberechtigung ist kein Lustkiller, sondern der Türöffner für echte Intimität. Wenn beide Partner sich gesehen und gehört fühlen, wenn Care-Arbeit nicht unsichtbar mitläuft, sondern bewusst verteilt wird, wenn es kein Machtgefälle gibt – entsteht Raum für Lust, Spiel und Nähe.

Wer sich nicht ständig überlastet oder unterdrückt fühlt, kann sich öffnen. Emotional und körperlich. Dann wird Sex nicht zur Pflichtübung oder zum Beziehungsbarometer, sondern zum gemeinsamen Erlebnis. Gleichberechtigung ist sexy, weil sie uns erlaubt, echt zu sein. Und nur um unserer selbst willen geliebt zu werden. Was kann es Schöneres geben?

6. Welche gesellschaftlichen Mythen rund um Sex und Geschlechterrollen möchtest du mit deinem Buch besonders herausfordern oder sogar entlarven?

Da gibt es einige – aber besonders gefährlich finde ich die Idee, dass gute Sexualität irgendwie „natürlich“ passieren müsste. Ohne Wissen, ohne Kommunikation. Oder dass Männer immer wollen und Frauen eher nicht. Dass Monogamie der einzige richtige Weg ist. Dass weibliche Lust kompliziert und männliche automatisch ist.

Diese Mythen machen es uns schwer, ehrlich mit uns selbst zu sein – und mit unseren Partnern. Lust ist individuell, entwicklungsfähig, verhandelbar und im Laufe des Lebens wandelbar.

7. Du sprichst über Orgasmuslücken, Performancedruck und festgefahrene Erwartungen. Was wünschst du dir für die sexuelle Aufklärung der nächsten Generation – in Familien, in der Schule, aber auch in den Medien?

Ich wünsche mir eine Aufklärung, die nicht nur über Biologie spricht, sondern über Gefühle, Grenzen, Konsens und Vielfalt. Die jungen Menschen zeigt: Du musst nichts leisten, um begehrenswert zu sein. Du darfst Nein sagen – und Ja. Du darfst ausprobieren, fragen, scheitern.

In Familien wünsche ich mir weniger Tabu und mehr ehrliches Interesse. Und in den Medien: weniger Klischees, mehr Wirklichkeit. Keine endlos perfekten Körper und Orgasmusschreie nach drei Sekunden Penetration – sondern Geschichten, die zeigen, dass Sexualität lebendig, wandelbar und manchmal auch widersprüchlich ist. Und genau deshalb so wertvoll.

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Vicky Chakalaka schreibt Motorsportgeschichte-Artikelbild

8. Wenn du einen Wunsch frei hättest für die Zukunft von Gleichberechtigung, Intimität und sexueller Selbstbestimmung – wie sähe dieser aus?

Dann wünsche ich mir, dass wir alle aufhören zu funktionieren – und anfangen zu fühlen. Dass wir Körper nicht mehr bewerten, sondern bewohnen. Dass Frauen sich nicht mehr für ihre Lust entschuldigen, Männer sich nicht mehr über ihre Potenz definieren und queere Menschen sich in Talkshows nicht für ihre Existenz rechtfertigen müssen.

Mein Wunsch ist, dass wir Räume schaffen: in Beziehungen, in der Gesellschaft, in uns selbst – in denen echte Nähe möglich ist. Und dass wir lernen: Intimität ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Einer, den wir gestalten dürfen – mit Offenheit, Respekt und einem klaren Ja zu uns selbst.

Weitere Informationen zu Heike Kleen

Hier geht es zu Heike Kleens Website

Zum Buch “ZusammenKommen”

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Über die Autorin

Kinga Bartczak
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Kinga Bartczak berät, coacht und schreibt zu Female Empowerment, neuer Arbeitskultur, Organisationsentwicklung systemischen Coaching und Personal Branding.

Zudem ist sie Geschäftsführerin der UnternehmerRebellen GmbH und Herausgeberin des FemalExperts Magazins.

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